Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung legt neues Gutachten vor

Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung sieht in seinem Jahresgutachten die zentralen Herausforderungen für die deutsche Wirtschaftspolitik im Strukturwandel, im technologischen Wandel sowie in der Klimapolitik. In Zeiten der Digitalisierung sei die Wirtschaftspolitik vor allem gefordert, Wachstumspotenziale zu heben.

Das Jahresgutachten 2019/2020 wird vorgestellt.

© Sachverständigenrat


Am 6. November 2019 hat der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR) sein aktuelles Jahresgutachten mit dem Titel „Den Strukturwandel meistern“ an Bundeskanzlerin Merkel übergeben und der Öffentlichkeit vorgestellt. Darin sieht der SVR vor dem Hintergrund der verhaltenen konjunkturellen Entwicklung die zentralen Herausforderungen für die deutsche Wirtschaftspolitik in der Gestaltung des Strukturwandels und der Digitalisierung sowie in der Klimapolitik. Die Antwort auf diese Herausforderungen liegt laut SVR in der Förderung von Forschung und Innovation, einer Erhöhung der Arbeitsmarktpartizipation von Frauen und älteren Menschen, der Steigerung von privaten und öffentlichen Investitionen sowie in international koordinierten Antworten, insbesondere mit Blick auf die Klimapolitik.[1] Dem SVR wurde im Sommer 2019 die Aufgabe des Nationalen Ausschusses für Produktivität übertragen. Diese Ausschüsse wurden auf europäischer Ebene eingerichtet, um Entwicklungen im Bereich von Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit zu analysieren. Als Teil des Jahresgutachtens legt der Rat seinen ersten Produktivitätsbericht in dieser Funktion vor.[2]

Deutliche Abkühlung der Konjunktur

Der SVR stellt in seinem Jahresgutachten dar, dass der lang anhaltende Aufschwung vorerst zu einem Ende gekommen sei. Diese Entwicklung spiegele das verlangsamte Wachstumstempo der Weltwirtschaft sowie den in Folge der Handelskonflikte schwachen Welthandel wider. Zudem konstatiert der SVR einen globalen Industrieabschwung, von dem Deutschland besonders betroffen sei. Für das Jahr 2019 prognostiziert der SVR ein deutsches Wirtschaftswachstum von +0,5 Prozent und für das Jahr 2020 einen Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts von +0,9 Prozent. Diese Einschätzungen liegen nah an der Projektion der Bundesregierung, die für 2019 ebenfalls ein Wirtschaftswachstum von +0,5 Prozent und für 2020 einen leicht höheren Zuwachs von +1,0 Prozent erwartet. Allerdings sieht der SVR erhebliche Risiken für die weitere Entwicklung zum Beispiel in einer möglichen Eskalation der Handelskonflikte, welche die exportorientierte deutsche Wirtschaft besonders treffen würde.

Trotz der verhaltenen konjunkturellen Aussichten sieht die Mehrheit des SVR keine Notwendigkeit für ein Konjunkturprogramm, da die Geld- und die Fiskalpolitik bereits expansiv ausgerichtet seien. Zudem sei der Wachstumsrückgang moderat. Aus Sicht der Mehrheit des SVR seien vielmehr die automatischen Stabilisatoren (wie insbesondere die gesetzliche Arbeitslosenversicherung und das progressive Steuersystem) ausreichend. Eine Minderheit des SVR (Prof. Schnabel/Prof. Truger) erachtet es vor dem Hintergrund des gestiegenen Rezessionsrisikos für sinnvoll, dass Bund, Länder und Kommunen ihre im Rahmen der Schuldenbremse vorhandenen Spielräume für antizyklische Maßnahmen in den Blick nehmen. Aus Sicht der Minderheit des SVR könnten im Fall einer konjunkturellen Eintrübung frühzeitige temporäre Maßnahmen wie etwa die befristete Einführung der degressiven Abschreibung oder ein Vorziehen der teilweisen Abschaffung des Solidaritätszuschlags angezeigt sein.

Rahmenbedingungen für unternehmerisches Handeln verbessern

Der SVR erklärt den Rückgang des Wirtschaftswachstums nicht nur mit konjunkturellen Aspekten, sondern sieht für diese Entwicklung auch strukturelle Ursachen. So zeige sich seit einiger Zeit eine anhaltend schwache Produktivitätsentwicklung in Deutschland. Dabei handelt es sich auch um ein internationales Phänomen. Als mögliche Ursachen dieser Entwicklung in Deutschland identifiziert der SVR insbesondere Verzögerungen beim Aufgreifen neuer Technologien sowie einen Rückgang der Gründungsdynamik. Mit Blick auf diese Befunde und vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung, die zu einer abnehmenden Zahl von Erwerbstätigen und einer Alterung der Gesellschaft führen wird, leitet der SVR wirtschaftspolitische Implikationen ab, die aus seiner Sicht zu einer Trendumkehr im Produktivitätswachstum und einer Zunahme des Potenzialwachstums beitragen können. So sollte aus Sicht des SVR die Gründungsdynamik unter anderem durch den Abbau von Arbeitsmarkt- und Produktmarktregulierungen, die als Markteintrittsbarrieren wirken, gestärkt werden. Um das Humanvermögen in Deutschland zu erhalten bzw. zu verbessern, spricht sich der SVR für lebenslanges Lernen und Verbesserungen im Bereich der frühkindlichen Bildung aus. Weiterhin sind aus Sicht des SVR private Investitionen entscheidend für die langfristige Wohlfahrt. Hierfür seien verlässliche Rahmenbedingungen für Unternehmen, ein wettbewerbsfähiges Steuersystem sowie eine wachstumsfördernde Gestaltung der Infrastrukturpolitik von zentraler Bedeutung. Auch der Zugang zu Finanzierungsmöglichkeiten sei eine wichtige Bedingung für unternehmerische Aktivitäten. Hier stellt der SVR Defizite bei der Bereitstellung von privatem Wagniskapital fest.

Unterschiedliche Einschätzungen zur Schuldenbremse

In seinem aktuellen Jahresgutachten befasst sich der SVR näher mit den öffentlichen Finanzen und insbesondere der Schuldenbremse. Dabei gibt es unterschiedliche Einschätzungen innerhalb des SVR, ob es Reformbedarf bei der Schuldenbremse gibt. Die Mehrheit des SVR sieht keinen Reformbedarf, da die aktuelle Regelung ausreichende Spielräume sowohl für Zwecke der Konjunkturstabilisierung als auch für etwaige Bedarfe bei den öffentlichen Investitionen biete. Eine Minderheit des SVR (Prof. Schnabel/Prof. Truger) sieht demgegenüber konzeptionelle Probleme bei der Schuldenbremse und rät dazu, bestehende Spielräume pragmatisch zu nutzen, um konjunkturelle Flexibilität zu wahren und den erheblichen Investitionsbedarf zu decken, der für die Zukunftsfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft und für die ökologische Wende erforderlich ist.

Deutsche Industriepolitik nicht neu erfinden, sondern weiterentwickeln

Der SVR sieht in einer Industriepolitik, die für alle Marktakteure die geeigneten Rahmenbedingungen festlegt und die Verbreitung von Wissen vorantreibt, eine Grundlage für eine höhere wirtschaftliche Dynamik und eine stärkere Wettbewerbsfähigkeit. Allerdings sieht er den Schutz und die Subventionierung einzelner Wirtschaftsbereiche und Unternehmen kritisch, da dadurch der Strukturwandel gebremst werden kann. Der SVR gesteht aber zu, dass in Fällen sektorspezifischen Marktversagens auf einzelne Sektoren oder Technologien zugeschnittene vertikale Eingriffe in die Wirtschaftsstruktur gerechtfertigt sein können. Um zu verhindern, dass eine solche Förderung durch Interessengruppen vereinnahmt wird, sollte der Staat strenge Kriterien anlegen. Eine „missionsorientierte Industriepolitik“ könne Elemente der horizontalen und der vertikalen Industriepolitik sinnvoll verknüpfen, indem sie große, gesellschaftlich relevante Ziele sektorübergreifend verfolge. Als Beispiel nennt der SVR das Thema Treibhausgasneutralität in Europa bis 2050 und einen einheitlichen, sektorübergreifenden CO2-Preis.

Aufstiegschancen sichern und Arbeitsanreize stärken

Gemäß seinem gesetzlichen Auftrag hat sich der SVR in seinem aktuellen Jahresgutachten wieder den Fragen der Verteilung von Einkommen und Vermögen zugewandt. Er stellt fest, dass die Einkommensverteilung seit 2005 weitgehend stabil geblieben ist. Das ausgeprägte Steuertransfersystem sorge für eine deutliche Reduktion der Einkommensungleichheit. Vor diesem Hintergrund spricht sich die Mehrheit des SVR gegen zusätzliche Maßnahmen aus, die auf eine Angleichung der Einkommensverteilung abzielen. Die Vermögensungleichheit hingegen sei weiterhin hoch, aber zwischen 2007 und 2017 leicht zurückgegangen. Allerdings hätten sich im selben Zeitraum die Nettovermögen deutlich erhöht.

Der SVR stellt heraus, dass der Niedriglohnsektor in Deutschland nur unzureichend als Sprungbrett in besser bezahlte Arbeitsverhältnisse funktioniert. Um Aufstiegschancen aus dem Niedriglohnbereich zu verbessern und Arbeitsanreize zu stärken, sollten – so der SVR – negative Arbeitsanreize durch eine Reform des Steuer- und Transfersystems abgemildert werden. So könne etwa eine Neustrukturierung der Transferentzugsraten Arbeitsanreize erhöhen und so für eine größere Teilnahme am Erwerbsleben sorgen.

Die Bundesregierung nimmt im Rahmen des Jahreswirtschaftsberichts 2020 zu dem Jahresgutachten Stellung. Dieser wird im Januar 2020 vorgelegt. Weitere Informationen zum Jahresgutachten des SVR finden sich unter www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de.

Kontakt: Dr. Franziska Lottmann
Referat: Grundsatzfragen der Wirtschaftspolitik

[1] Der SVR hat im Juli 2019 ein Sondergutachten mit dem Titel „Aufbruch zu einer neuen Klimapolitik“ vorgelegt. Über das Sondergutachten wurde in der Ausgabe von August 2019 der Schlaglichter der Wirtschaftspolitik berichtet.
[2] Mit der Beauftragung des SVR als Nationaler Ausschuss für Produktivität hat Deutschland die entsprechende Empfehlung der Europäischen Union (2016/C 349/01) umgesetzt. Die nationalen Ausschüsse sollen die Entwicklungen im Bereich der Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit analysieren. Der Sachverständigenrat legt mit dem aktuellen Jahresgutachten in Kapitel 2 den ersten Produktivitätsbericht vor, der nun jährlich erstellt wird.