Der Europäische Wirtschaftsraum feiert Jubiläum

25 Jahre Ausweitung des EU-Binnenmarkts auf Norwegen, Island und Liechtenstein – eine Erfolgsgeschichte

Abstrakes Bild der europäischen Union

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Der ungehinderte Warentransport über Binnengrenzen hinweg erscheint in großen Teilen Europas heute ebenso selbstverständlich wie problemloses grenzüberschreitendes Reisen, Arbeiten oder Investieren. Möglich macht dies der europäische Binnenmarkt, der über die Europäische Union hinausreicht. Er umfasst mittlerweile 31, nach dem Brexit dann 30 Länder, die gemeinsam den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) bilden. Dies sind die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU) sowie Norwegen, Island und Liechtenstein. Ein Austritt Großbritanniens aus der EU zieht de facto ein Ausscheiden aus dem EWR-Binnenmarkt nach sich. Im EWR leben aktuell 518 Millionen Menschen und etwa die Hälfte des Welthandels findet hier statt [1]. Das dem EWR zu Grunde liegende Abkommen feiert in diesem Jahr 25-jähriges Jubiläum. Es wurde 1992 zwischen den Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaften (EG) und der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) abgeschlossen und trat am 1. Januar 1994 in Kraft.

Welche Regeln gelten im Europäischen Wirtschaftsraum?

Das EWR-Abkommen gewährleistet den Menschen und Unternehmen über die EU hinaus auch in Norwegen, Island und Liechtenstein weitgehend die Rechte und Möglichkeiten des europäischen Binnenmarktes, insbesondere den freien Verkehr von Personen, Dienstleistungen, Waren und Kapital. Über diese vier Grundfreiheiten hinaus gelten EWR-weit gemeinsame Regeln z.B. zu technischer Normung, Bildung, Forschung, Umwelt, Sozialem, Verbraucherschutz, Lebensmittelsicherheit, Gesellschafts- oder Wettbewerbsrecht.

Umgekehrt fallen andere, bedeutende Politikbereiche der heutigen EU nicht unter das EWR-Abkommen. Zum Teil waren diese zum Zeitpunkt des Abschlusses des Abkommens im Mai 1992 in den damaligen Europäischen Gemeinschaften, Vorläufer der Europäischen Union, noch nicht vergemeinschaftet. Zum Teil blieben sie aber auch bewusst außen vor, weil sie Felder betrafen, die innenpolitisch in den EFTA-Ländern einer Vollmitgliedschaft in der EG bzw. EU entgegenstanden. Nicht geregelt im EWR-Abkommen sind insbesondere die Bereiche EU-Agrar- und Fischereipolitik. Auch das Thema Zollunion und damit die gemeinsame Handelspolitik bleiben im EWR-Abkommen außen vor. Dies gilt auch für Teile der Wirtschafts- und Währungsunion, insoweit sie über den Binnenmarkt hinausgeht (etwa beim Euro oder der Fiskalpolitik), für die direkte und indirekte Besteuerung, die Atomunion oder die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU. Die Politikfelder Justiz und Inneres fallen ebenfalls nicht unter das EWR-Abkommen.

Um wirtschaftliche und soziale Ungleichheiten zwischen den verschiedenen Regionen des EWR abzubauen, greift ein Finanzierungsmechanismus. Durch ihn flankieren Norwegen, Island und Liechtenstein die Kohäsions- und Strukturhilfen der EU, aus denen sie selbst keine Ansprüche haben. Im laufenden Förderzeitraum 2014–2021 unterstützen ihre „EEA Grants“ mit rund 1,5 Milliarden Euro Projekte in Griechenland, Portugal und den seit 2004 der EU beigetretenen süd- und osteuropäischen Mitgliedsstaaten. Norwegen stellt mit dem Programm „Norway Grants“ weitere rund 1,3 Milliarden Euro bereit.

Die Historie des Europäischen Wirtschaftsraums

1985 vereinbarten die Europäischen Gemeinschaften die Schaffung eines gemeinsamen Binnenmarktes. Dieses Ziel wurde am 7. Februar 1992 im Vertrag von Maastricht zur Gründung der Europäischen Union verankert. Parallel war in den 1980er Jahren an der Idee eines übergreifenden, gemeinsamen Wirtschaftsraumes gearbeitet worden. Mit ihm sollten auch die Mitglieder der Europäischen Freihandelsassoziation EFTA in den künftigen Binnenmarkt eingebunden werden, die keine EG -Vollmitgliedschaft anstrebten. Die Pläne für diesen Europäischen Wirtschaftsraum wurden auch nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989/90 weiterverfolgt, und der EWR sollte zeitgleich mit dem EG-Binnenmarkt 1993 entstehen.

Das EWR-Abkommen trat schließlich am 1. Januar 1994 in Kraft. Da der Europäische Gerichtshof der EG die institutionelle Ausgestaltung des EWR-Abkommens 1991 zunächst missbilligt hatte, unterzeichneten die damals zwölf EG-Mitgliedsstaaten und sieben Mitglieder der EFTA (Finnland, Island, Liechtenstein, Norwegen, Österreich, Schweden und die Schweiz) am 2. Mai 1992 eine überarbeitete Fassung des Vertragswerks. Dieses ist inhaltlich bis heute gültig, lediglich die Teilnehmer am EWRhaben sich seither geändert. Zunächst trat die Schweiz, die das Abkommen mit ausgehandelt und unterzeichnet hatte, dem EWR in Folge einer knapp ablehnenden Volksabstimmung vom Dezember 1992 nicht bei. Liechtenstein, mit der Schweiz in einer Währungs- und Zollunion verbunden, musste daraufhin seinen Zollvertrag mit der Schweiz anpassen und wurde erst am 1. Mai 1995 EWR-Mitglied. Bereits zum 1. Januar 1995 wechselten Finnland, Österreich und Schweden ins Lager der EU, die 2004, 2007 sowie zuletzt 2013 insgesamt 13 weitere Länder als Mitglieder aufnahm. EU-Beitrittskandidaten müssen auch den Beitritt zum EWR beantragen.

Wie werden aus EU-Vorschriften EWR-Regeln?

Die Teilnahme der Nicht-EU-Mitglieder Norwegen, Island und Liechtenstein am EU-Binnenmarkt setzt voraus, dass EWR-weit die gleichen Regeln gelten. Rechtlich umfasst das EWR-Abkommen den Text des Hauptabkommens sowie 22 Anhänge und 50 Protokolle. Die in der EU geltende Unterscheidung zwischen Primär- und Sekundärrecht besteht nicht. Da sich das EU-Recht ständig weiterentwickelt, werden neue oder geänderte EU-Regelungen, die den Binnenmarkt betreffen und damit „EWR-relevant“ sind, laufend dem EWRhinzugefügt. Technisch geschieht dies durch Anpassung der Anlagen zum EWR-Abkommen, in denen alle im EWR geltenden EU-Vorschriften aufgelistet und teils leicht angepasst sind. Die darin aufgeführten EU-Rechtsakte wie Richtlinien, Verordnungen und Entscheidungen gelten dann auch für und in Norwegen, Island und Liechtenstein.

Das EWR-Abkommen arbeitet für diese Fortschreibung sowie für die Kontrolle der Umsetzung der gemeinsamen Regeln mit zwei Säulen. Die EU und ihre Mitgliedsstaaten bilden dabei die eine Säule, Norwegen, Island und Liechtenstein gemeinsam die andere. Anders als in der EU, die mit 24 Amtssprachen arbeitet, ist innerhalb der EWR-Gremien Englisch als einzige Sprache vereinbart. Dieses Sprachenregime gilt grundsätzlich aber nur für die beteiligten Staaten und Institutionen untereinander, nicht gegenüber Bürgerinnen und Bürgern sowie Unternehmen.

Die quasi-gesetzgeberische Aufgabe der Überführung von EU-Binnenmarktvorschriften in das EWR-Abkommen vollzieht der Gemeinsame EWR-Ausschuss. In ihm sind einerseits die EU durch die Europäische Kommission bzw. den Europäischen Auswärtigen Dienst und andererseits Norwegen, Island und Liechtenstein vertreten. Beide Seiten müssen jeweils mit einer Stimme sprechen, was durch Abstimmungsmechanismen innerhalb der jeweiligen EWR-Säule sichergestellt wird. Auf EU-Seite ist Deutschland über den Rat der EU an der Festlegung der EU-Positionen beteiligt. Meinungsverschiedenheiten zwischen EWR/EFTA- und EWR/EU-Seite werden einvernehmlich gelöst.

Die nötigen Vorarbeiten erledigt die EWR/EFTA-Seite. Norwegen, Island und Liechtenstein sind als Nicht-EU-Mitglieder zwar nicht förmlich am Rechtsetzungsprozess innerhalb der Union beteiligt, werden aber in die Vorarbeiten eingebunden. Außerdem können sich die drei Länder – gegen anteilige Kostenübernahme – an einer Reihe von Programmen und Agenturen der EU beteiligen. Noch bevor die EU eine Rechtsvorschrift verabschiedet, kann die EWR/EFTA-Seite prüfen, ob eine Regelung in den Anwendungsbereich des EWR-Abkommens fällt. Ist dies der Fall, so erstellt das EFTA-Sekretariat einen Beschlussentwurf für den Gemeinsamen Ausschuss, um das Abkommen später entsprechend anzupassen. Meist handelt es sich dabei um sprachliche und technische Anpassungen, etwa wo EU-Regeln auf Politikfelder Bezug nehmen, die nicht vom EWR-Abkommen umfasst sind. Zudem übernimmt die EWR/EFTA-Seite die erforderlichen Übersetzungen der relevanten EWR-Rechtstexte ins Norwegische und Isländische.

In den 25 Jahren seit Bestehen des EWR hat der Gemeinsame Ausschuss auf diese Weise rund 10.000 EU-Rechtsakte dem EWR-Abkommen hinzuge-fügt. Konsolidierte Fassungen der Anhänge und Protokolle sind auf der Internetseite des EFTA-Sekretariats abrufbar (www.efta.int/legal-texts/eea/protocols-to-the-agreement). Von der im EWR-Abkommen vorgesehenen Möglichkeit, der Übernahme einer EU-Regelung förmlich zu widersprechen, hat die EWR/EFTA-Seite seit Bestehen des Abkommens keinen Gebrauch gemacht. Auch der zwischen beiden Seiten im Abkommen niedergelegte Streitbeilegungsmechanismus ist in keinem Fall aktiviert worden.

Neben dem Gemeinsamen Ausschuss hat das EWR-Abkommen weitere Gremien geschaffen, die sich an den Institutionen der EG von 1992 orientieren (EWR-Rat der Regierungen, Beratender EWR-Ausschuss aus Mitgliedern des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses und Mitgliedern des EFTA-Konsultativkomitees, Gemeinsamer Parlamentarischer EWR-Ausschuss).

Wie wird die Einhaltung des EWR-Regelwerks gewährleistet?

Auch die Kontrolle der Umsetzung und Einhaltung sowie die einheitliche Auslegung der gemeinsamen EWR-Regeln erfolgt im Rahmen der zwei Säulen. Für die EU-Seite erfüllen dies die Europäische Kommission und die EU-Gerichte, für die Nicht-EU-Staaten nehmen die EFTA-Überwachungsbehörde und der EFTA-Gerichtshof diese Aufgaben wahr.

Die EFTA-Überwachungsbehörde (ESA – von englisch EFTA Surveillance Authority) stellt als unabhängige Exekutiveinrichtung sicher, dass die drei EWR/EFTA-Staaten ihren Verpflichtungen aus dem EWR-Abkommen nachkommen, und führt nötigenfalls Vertragsverletzungsverfahren durch. Für die EU-Mitgliedsstaaten übernimmt diese Rolle die Europäische Kommission. Beide Brüsseler Institutionen sind damit auch Ansprechpartnerinnen für Beschwerden von Bürgerinnen und Bürgern oder Unternehmen, die sich in ihren Rechten und Möglichkeiten aus dem EWR-Abkommen verletzt oder behindert sehen.

Der EFTA-Gerichtshof entscheidet als unabhängiges Justizorgan über Vertragsverletzungsklagen der ESA gegen Norwegen, Island und Liechtenstein, über Fragen zur Auslegung des Abkommens, die ihm nationale Gerichte aus diesen Ländern vorlegen können, sowie über Klagen gegen Entscheidungen der ESA. Auf EU-Seite übernehmen diese Funktionen für EWR-relevante Fragen bzw. Entscheidungen die EU-Gerichte in Luxemburg.

EWR und Brexit

Ende März 2017 hat Großbritannien der EU seine Absicht mitgeteilt, aus der Union auszutreten. Auch aus dem EWR-Abkommen ist ein „Rücktritt“ mit Frist von einem Jahr möglich. Eine entsprechende Erklärung hat die britische Regierung nicht abgegeben. Vereinzelt wurde daraus gefolgert, Großbritannien könnte als EWR-Vertragsstaat auch nach einem EU-Austritt weiter am gemeinsamen Binnenmarkt teilnehmen. Allerdings begrenzt das EWR-Abkommen seinen Anwendungsbereich territorial auf das Gebiet der EU sowie die Hoheitsgebiete von Norwegen, Island und Liechtenstein. Ein Austritt Großbritanniens aus der EU hätte damit auch ein Ausscheiden aus dem EWR-Binnenmarkt zur Folge.

Verschiedentlich wurde vorschlagen, Großbritannien könnte aus der EU ins Lager der EWR/EFTA-Staaten wechseln, um so zwar aus der EU auszutreten, aber weiter am Binnenmarkt teilnehmen zu können. Das britische Unterhaus hat diese „Norwegen-Option“ im März 2019 jedoch mit deutlicher Mehrheit abgelehnt. Auch einen als „EWR 2.0/Norwegen-Plus“ bezeichneten Vorschlag, wonach Großbritannien EWR/EFTA-Mitglied werden und darüber hinaus die bestehende Zollunion mit der EU beibehalten sollte, hat das Unterhaus verworfen. In die Austrittsverhandlungen der britischen Regierung mit der EU haben diese innenpolitischen Überlegungen keinen Eingang gefunden. Ohnehin bräuchte jede dieser Varianten die Zustimmung der anderen 30 EWR-Vertragsstaaten und der EU.

EWR – eine Erfolgsgeschichte

Der vor einem Vierteljahrhundert zwischen Arktis und Mittelmeer geschaffene Europäische Wirtschaftsraum ist eine Erfolgsgeschichte. Das EWR-Abkommen funktioniert, weil alle Beteiligten davon profitieren. Insbesondere grenzüberschreitendes Arbeiten, Reisen und Handeln wurden stetig vereinfacht. Offene, faire Märkte, auf denen einheitliche Voraussetzungen gelten, wirken sich vorteilhaft auf Wirtschaft und Gesellschaft aus und schaffen ein positives Umfeld für Investitionen und die Schaffung von Arbeitsplätzen und Wohlstand. Unternehmen und Verbraucherinnen und Verbraucher in ganz Europa haben so von der Ausweitung des EU-Binnenmarkts auf Norwegen, Island und Liechtenstein profitiert. Auch die drei EWR/EFTA-Staaten selbst bewerten ihre Teilnahme positiv und betonen die Vorteile, die das Abkommen den ganz unterschiedlichen Ländern gebracht hat. Nach 25 gemeinsamen Jahren im EWR sind die teilnehmenden Länder durch den europäischen Binnenmarkt heute wirtschaftlich enger miteinander verflochten als je zuvor.

[1] Zu dem Zeitpunkt, als dieser Text verfasst wurde, war weiterhin unklar, ob das Vereinigte Königreich Ende Oktober 2019 die Europäische Union und damit auch den EWR verlässt oder ob es zu einer erneuten Verschiebung des Austrittstermins kommt. Die Darstellung im Text umfasst daher weiterhin das Vereinigte Königreich als Mitglied des EWR.

EWR: Der Europäische Wirtschaftsraum (EWR) umfasst die 28 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (darunter Deutschland) sowie Island, Liechtenstein und Norwegen. Grundlage ist das 1992 in Porto geschlossene Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR-Abkommen), das den Binnenmarkt der Europäischen Union um Island, Liechtenstein und Norwegen erweitert. Die drei Nicht-EU-Mitglieder des EWR werden gemeinsam auch als die EWR/EFTA-Staaten bezeichnet, da sie neben dem EWR der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) angehören. Viertes EFTA-Mitglied ist die Schweiz, die weder der EU noch dem EWR angehört, aber durch eine Reihe von bilateralen Verträgen mit der EU verbunden ist.

EU: Die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU) sind Belgien, Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien & Nordirland (bis zum Wirksamwerden des am 29. März 2017 beantragten Austritts), Irland, Italien, Kroatien, Lettland, Litauen, Luxemburg, Malta, die Niederlande, Österreich, Polen, Portugal, Rumänien, Schweden, die Slowakei, Slowenien, Spanien, die Tschechische Republik, Ungarn und Zypern. Grundlage der EU ist der 2007 abgeschlossene Vertrag von Lissabon.

EG: Die Europäischen Gemeinschaften für Wirtschaft, für Kohle und Stahl und für Atom (EG) waren bis zum Inkrafttreten des Vertrags von Maastricht 1993 die Vorgängerinnen der EU. EG-Gründungsmitglieder waren 1957 Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande (Römische Verträge). Diese sechs Staaten hatten bereits 1952 in Paris die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl begründet.

EFTA: Die Europäische Freihandelsassoziation (EFTA – von englisch: European Free Trade Association) umfasst heute Island, Liechtenstein, Norwegen und die Schweiz. Sie war 1960 in Stockholm von Dänemark, Großbritannien & Nordirland, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden und der Schweiz als Freihandelszone gegründet worden.
Kontakt: Markus Schneider
Referat: Beziehungen zu Skandinavien, EFTA, EWR, Ostseerat, Europäische Territoriale Zusammenarbeit