Das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie stellt seine Strategie für Reallabore als Testräume für Innovation und Regulierung vor

Die Digitalisierung mit immer kürzeren Innovationszyklen stellt auch für die Regulierung eine große Herausforderung dar. Wie können wir rechtliche Rahmenbedingungen so gestalten, dass sie offen sind für neue Technologien und Geschäftsmodelle, ohne notwendige Schutzstandards aufzugeben? Reallabore als zeitlich und räumlich begrenzte Testräume können durch die verstärkte und gezielte Nutzung rechtlicher Gestaltungsspielräume wie z.B. Experimentierklauseln dazu beitragen, die Umsetzung von Innovationen zu erleichtern und Regulierung zukunftsorientiert weiterzuentwickeln.

Im Spannungsfeld von Innovation und Regulierung

Im Jahr 1865 wurde im Vereinigten Königreich als Reaktion auf die immer stärkere Verbreitung von Dampfwagen ein Gesetz verabschiedet, um die Bevölkerung vor möglichen Gefahren dieser neuen Technologie zu schützen. Der Gesetzgeber verlangte unter anderem, dass Dampfwagen von mindestens zwei Personen gesteuert werden und diese innerhalb geschlossener Ortschaften eine Höchstgeschwindigkeit von zwei Meilen pro Stunde (also etwa 3 km/h) nicht überschreiten. Auf Landstraßen war immerhin eine Geschwindigkeit von bis zu vier Meilen pro Stunde erlaubt. Zusätzlich musste jedem Dampfwagen ein Fußgänger vorangehen, der die anderen Verkehrsteilnehmer mit einer roten Flagge vor dem Fahrzeug warnte, was dem Gesetz auch die Bezeichnung „Red Flag Act“ eingebracht hat. Erst nach über 30 Jahren wurden die strengen Anforderungen gegen den Widerstand der Eisenbahngesellschaften und Pferdebesitzer gelockert. Der „Red Flag Act“ gilt heute als Paradebeispiel für einen besonders vorsichtigen und defensiven Umgang mit neuen Technologien.

Damals wie heute fordern neue Technologien und Geschäftsmodelle den Staat heraus, geeignete regulatorische Antworten zu finden. Welche Regeln brauchen Blockchain, Künstliche Intelligenz und die Sharing Economy? Wie gehen wir mit autonomen Drohnen, Lieferrobotern oder Fortschritten
in der Telemedizin um? Im Idealfall werden Lösungen entwickelt, die einerseits Innovationen zum Wohle der Menschen ermöglichen, aber gleichzeitig potenzielle Risiken für Verbraucher und Umwelt in angemessener Weise berücksichtigen. Doch die Festlegung eines Ordnungsrahmens, der all diese Aspekte adressiert, ist alles andere als trivial. Gerade im Zeitalter der Digitalisierung mit ihren immer kürzeren Innovationszyklen und neuen, innovativen Technologien und Geschäftsmodellen steigen die Anforderungen an den Regulierer. Dies gilt sowohl mit Blick auf die Reaktionsgeschwindigkeit als auch hinsichtlich der zunehmenden Komplexität mancher Innovationen, wenn man beispielsweise an die Blockchain-Technologie oder Künstliche Intelligenz auf Basis von Algorithmen denkt. In einigen Bereichen, wie in der Medizin oder beim autonomen Fahren, kommen ethische Fragen hinzu. Die Unsicherheit über das richtige Maß an Regulierung ist oft hoch.

Doch diese Unsicherheit darf uns nicht lähmen. Der technische Fortschritt ist die Grundlage für Wachstum und Wohlstand und gerade die Digitalisierung bietet große Möglichkeiten für Unternehmen und Verbraucher. Wir müssen diese Entwicklung als Chance für unsere Bürgerinnen und Bürger begreifen. Dafür braucht es aber einen zukunftsgerichteten, flexiblen Rechtsrahmen, der innovativen Ideen „Luft zum Atmen“ verschafft und flexible Antworten auf neue Technologien und Geschäftsmodelle erlaubt. Wenn Deutschland im internationalen Wettbewerb mithalten will, müssen heute die Weichen für die Zukunft gestellt werden – auch regulatorisch.

Was sind Reallabore?

Wenn die Unsicherheit über eine zukünftige Regulierung hoch ist, können Reallabore einen geeigneten Ansatz für ein empirisch basiertes Vorgehen darstellen. Als Testräume für Innovation und Regulierung bieten sie die Möglichkeit unter realen Bedingungen Erfahrungen im Zusammenspiel von Innovation und Regulierung zu sammeln.

Was ist unter Reallaboren zu verstehen?[1] Zunächst: Es gibt bisher keine allgemein akzeptierte Definition des Begriffs „Reallabore“ und die wissenschaftliche Debatte über dieses Thema hält an. Daneben existieren artverwandte Konzepte wie Experimentierräume, „Living Labs“, Innovationsräume oder „sandboxes“. Nach unserer Definition ist ein idealtypisches Reallabor durch drei zentrale Elemente charakterisiert:

  1. Zunächst geht es in Reallaboren darum, neue – vorwiegend digitale – Technologien und Geschäftsmodelle in zeitlich und räumlich begrenzten Modellprojekten unter realen Bedingungen zu erproben. Eine solche Erprobung erfordert nicht notwendigerweise eine aktive Rolle des Staates, zum Beispiel wenn es darum geht, testweise mit einem neuen Rasenmäherroboter oder einem Bringdienst für regionale Produkte an den Markt zu gehen. Häufig kommt es jedoch vor, dass neue, digitale Produkte oder Geschäftsmodelle erprobt werden sollen, die nur bedingt mit dem bestehenden Rechts- und Regulierungsrahmen vereinbar sind, weil der Gesetzgeber solche Innovationen bei der Einführung der entsprechenden Gesetze schlichtweg noch nicht absehen konnte.
  2. Reallabore zeichnen sich daher zusätzlich dadurch aus, dass sie eine Erprobung von neuen Technologien und Geschäftsmodellen auf der Grundlage von Experimentierklauseln oder anderen rechtlichen Flexibilisierungsinstrumenten ermöglichen. Damit werden die notwendigen Freiräume geschaffen, ohne dass der bestehende Rechtsrahmen in Frage gestellt wird. Eine klassische Experimentierklausel findet sich beispielsweise im Personenbeförderungsgesetz, wo es unter §7 Absatz 2 heißt: „Zur praktischen Erprobung neuer Verkehrsarten oder Verkehrsmittel kann die Genehmigungsbehörde [...] Abweichungen von Vorschriften dieses Gesetzes [...] für die Dauer von höchstens vier Jahren genehmigen, soweit öffentliche Verkehrsinteressen nicht entgegenstehen.“ Durch die Schaffung und Anwendung von Experimentierklauseln kann der Staat Innovation möglich machen.
  3. Schließlich liegen insbesondere dann Reallabore im Sinne von Testräumen für Innovation und Regulierung vor, wenn mit diesen aus staatlicher Sicht ein klares regulatorisches Erkenntnisinteresse verbunden ist. Bei Reallaboren stehen also nicht nur die Innovationen im Fokus, sondern auch und ganz besonders die Frage, welche Schlüsse für die zukünftige Regulierung bestimmter Wirtschaftsbereiche oder Anwendungsfelder gezogen werden sollen. Dieser Aspekt muss bei der Gestaltung von Reallaboren von Anfang an mitbedacht werden, zum Beispiel durch eine entsprechende Erhebung von Daten und eine umfassende Begleitforschung. Erst wenn mit Reallaboren ein regulatorischer Lernprozess verknüpft ist, können diese dazu beitragen, einen innovationsoffenen und zukunftsorientierten Rechtsrahmen zu entwickeln.

Die drei Säulen der Reallabore-Strategie des BMWi

Im Koalitionsvertrag ist das Ziel festgehalten, Reallabore und Experimentierräume in ganz unterschiedlichen Themenbereichen voranzutreiben. Vor diesem Hintergrund beabsichtigt das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, Reallabore als innovationspolitisches Querschnittinstrument zu stärken. Im Dezember 2018 wurde dafür eine umfassende Reallabore-Strategie vorgestellt, die auf drei Säulen fußt:

Säule 1 – Innovationsoffene Regulierung fördern: Reallabore setzen regulatorische Spielräume voraus. Wenn wir dem Fortschritt nicht „regulatorisch hinterherlaufen“ wollen, brauchen wir in Zukunft mehr Flexibilität im Umgang mit neuen Ideen. Vor diesem Hintergrund stellen Experimentierklauseln und Ausnahmeregelungen zentrale Bausteine dar, um den Rechtsrahmen innovationsoffen und zukunftsorientiert zu gestalten. Diese Instrumente müssen gestärkt werden. Ein elementarer Teil der Reallabore-Strategie zielt deshalb darauf ab, neuen Gesetzen und Verordnungen durch Verankerung von Experimentierklauseln mehr Flexibilität zu verleihen. Wie müssen sie ausgestaltet werden, um größtmögliche Flexibilität und gleichzeitig eine rechtssichere Umsetzung von Reallaboren zu ermöglichen? Auf welcher rechtlichen Ebene müssen oder können sie verankert werden, und gibt es die Möglichkeit einer „Generalklausel“, die standardmäßig in Gesetzgebungsverfahren mit Bezug zu technologischen Innovationen verankert werden könnte? Rechtsgutachten und der enge Austausch mit Experten sollen dabei helfen, diese Fragen zu beantworten.

Gleichzeitig muss die Frage beantwortet werden, wie bestehende Klauseln in der Praxis besser genutzt werden können.

Säule 2 – Vernetzung und Information: Wir müssen Unsicherheiten und Informationsdefizite abbauen sowie die Vernetzung und den Austausch zwischen Wirtschaft, Wissenschaft und Verwaltung verbessern. In vielen laufenden und geplanten Projekten tauchen immer wieder dieselben Fragen auf: Ist so etwas rechtlich möglich? An wen muss ich mich wenden? Wo finde ich mögliche Projektpartner? Was muss ich mit Blick auf das Beihilfe- und Wettbewerbsrecht beachten und wie steht es um Fragen der Haftung und Versicherung? Wer kann mich unterstützen? Die Beantwortung dieser Fragen kostet Zeit und Kraft – nicht selten ein Grund dafür, dass innovative und erfolgversprechende Ideen nicht umgesetzt werden.

Ziel der Reallabore-Strategie ist es, Informationsdefizite abzubauen, Synergieeffekte zu nutzen und Doppelarbeit zu vermeiden. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie entwickelt daher derzeit ein „Handbuch Reallabore“, das die relevanten Akteure in die Lage versetzen soll, die richtigen und notwendigen Fragen zu stellen, und gleichzeitig bei der Beantwortung dieser Fragen unterstützen soll. Dafür wollen wir Informationen bereitstellen, die über rechtliche Fragestellungen, aber auch gelungene Beispiele aus der Praxis informieren. Nicht immer muss das Rad neu erfunden werden.
Durch die Einrichtung eines „Netzwerks Reallabore“ soll der Austausch und die Vernetzung zwischen den Stakeholdern erleichtert werden und Informationen über rechtliche Möglichkeiten, zukünftige Reallabore-Wettbewerbe oder Praxisbeispiele aus dem In- und Ausland verbreitet werden. Das Netzwerk kann auch dazu dienen, Projektpartner – zum Beispiel ein Start-up mit einer innovativen Idee und eine experimentierfreudige Gemeinde – zusammenzuführen.

Die konkreten Anwendungsfelder gehen teilweise weit über die Zuständigkeiten des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie hinaus. Daher ist die enge Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Bundesministerien zentrale Voraussetzung für eine erfolgreiche Umsetzung unserer Reallabore-Strategie. Um den Austausch zu erleichtern und zu verstetigen, wurde die interministerielle Arbeitsgruppe „Reallabore“ ins Leben gerufen. Die Auftaktsitzung der Arbeitsgruppe fand am 27. November im Bundesministerium für Wirtschaft und Energie statt. Es zeigte sich ein breiter Konsens, dass Reallabore in Zeiten des digitalen Wandels ein wichtiges und notwendiges Instrument darstellen, um den Regulierungsrahmen weiterzuentwickeln und Innovation in Deutschland zu ermöglichen.

Die ersten beiden Säulen der Reallabore-Strategie zielen zusammenfassend darauf ab, einerseits die grundsätzlichen Voraussetzungen für solche Testräume zu schaffen und andererseits dafür zu sorgen, dass die bestehenden Möglichkeiten auch umfassend genutzt werden.

Säule 3 – Reallabore initiieren und begleiten: Wir wollen die Erprobung von Innovation und Regulierung nicht zuletzt durch eigene Projekte und Reallabore-Wettbewerbe stärker in der Praxis verankern, mit positiven Beispielen vorangehen und zeigen, dass es geht! Gerade durch Reallabore-Wettbewerbe sollen Ideen aus der Wirtschaft aufgegriffen und begleitend umgesetzt werden. Gemeinsam gilt es, regulatorische Hürden zu identifizieren und rechtskonforme Lösungen zu entwickeln, um Innovationen in Deutschland zu ermöglichen und gleichzeitig Erfahrungen für die zukünftige Regulierung zu sammeln.

Digitalisierung besser Schritt hält

Eines soll deutlich klargestellt werden: Reallabore zielen nicht auf eine Deregulierung oder den Abbau von Sicherheits- und Schutzstandards ab. Ganz im Gegenteil gibt es viele Bereiche, in denen Rechtsunsicherheit besteht und sinnvolle Regelwerke erst geschaffen werden müssen. Gleichzeitig müssen wir auch bestehende Regeln, die unter Umständen vor Jahrzehnten entstanden sind, in Zeiten des digitalen Wandels häufiger als bisher in Frage stellen. Reallabore sollen helfen, einen geeigneten Rechtsrahmen zu entwickeln, ohne sinnvolle und notwendige Standards aufzugeben.
Wenn es uns gelingt, durch Reallabore nicht nur Testräume für die Erprobung neuer Produkte und Geschäftsmodelle zu schaffen, sondern in solchen gleichzeitig aktiv das regulatorische Umfeld „mitzudenken“, wäre ein wichtiger Schritt getan, dass Regulierung besser mit dem Tempo der Digitalisierung Schritt halten kann.
Weitere Informationen zur Reallabore-Strategie des BMWi finden Sie auch unter: .

Werden Sie Teil unseres Netzwerks!

Interessieren Sie sich für Reallabore oder haben vielleicht selbst – als Verwaltung, als Unternehmen oder im Rahmen Ihrer wissenschaftlichen Arbeit – Erfahrungen mit diesem Thema gesammelt? Wollen Sie über weitere Entwicklungen informiert werden und sich mit anderen Experten und Praktikern austauschen? Dann laden wir Sie ein: Werden Sie Teil unseres Reallabore-Netzwerks und helfen Sie mit, Reallabore zu ermöglichen und den Innovationsstandort Deutschland zu stärken!
Melden Sie sich an unter reallabore@bmwi.bund.de.

Kontakt:
Dr. Kai Hielscher
Referat: Wirtschaftspolitische Analyse, Leiter der Projektgruppe Reallabore
Dr. Sören Enkelmann
Referat: Wirtschaftspolitische Analyse, Projektgruppe Reallabore

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[1] Neben der hier vorgestellten themenübergreifenden Reallabore-Strategie wurde im 7. Energieforschungsprogramm der Bundesregierung eine neue Fördersäule für „Reallabore der Energiewende“ eingeführt, über die wir in der Oktober-Ausgabe der Schlaglichter der Wirtschaftspolitik berichtet haben. Hierbei geht es darum, den Technologie- und Innovationstransfer von Forschungsergebnissen in den Markt durch groß angelegte und systemdienliche Demonstrationsvorhaben in Kombination mit zukunftsfähigen Geschäftsmodellen zu beschleunigen und auf diesem Gebiet Wege für neue regulatorische Ansätze im Energiebereich zu eröffnen.