Artikel - Europäische Industriepolitik

Europäische Industriepolitik

Einleitung

Mechaniker bei der Fertigung eines Radgetriebes; Quelle: iStock.com.com/gilaxia

© iStock.com.com/gilaxia

Die Industrie hat Europa seit mehr als zwei Jahrhunderten Wachstum, Wohlstand und Fortschritt gebracht. Sie hat im nationalen, aber auch im Wirtschaftsgefüge der Europäischen Union (EU) aufgrund ihrer Wirtschaftsleistung und ihres Beitrags zu Wachstum und Wohlstand einen hohen Stellenwert.

Die europäische Industrie stand in 2020 für eine Bruttowertschöpfung von gut 3 Billionen Euro, das sind ca. 21,9 Prozent der gesamten EU-Wertschöpfung (Quelle: statista.de, Weltbank). Sie generiert über 80 Prozent der EU-Exporte und bietet rund 32,2 Millionen sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze. Gerade für Deutschland ist die europäische Industriepolitik ein außerordentlich wichtiges Feld: 2020 gingen 52,7 Prozent der deutschen Exporte in die EU, 53,3 Prozent der deutschen Importe stammten aus der EU (Quelle: destatis). Im Jahr 2020 lag der Anteil der deutschen Industrie an der gesamten, vom Verarbeitenden Gewerbe aller 28 EU-Mitgliedsstaaten erwirtschafteten Bruttowertschöpfung bei 29 Prozent (Quelle: eurostat).

Eine konsistente, aktivierende und zielgerichtete europäische Industriepolitik ist insofern zentral, um auch in Zukunft Innovationen, Wachstum und Wohlstand im Euro-Raum zu fördern und gute bezahlte, hochwertige und sichere Arbeitsplätze in der Industrie zu gewährleisten. Dies gilt umso mehr angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen im Zuge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine und der fortwährenden Bewältigung der COVID-19-Pandemie.

Die EU-Industriestrategie (2020) und Ihr Update (2021)

Der Forderung von BMWK und anderen EU-Mitgliedstaaten, die EU-Industriestrategie der EU-Kommission von 2017 zu erneuern, kam die EU-Kommission in 2020 nach. In 2021 legte die EU-Kommission als Reaktion auf die Corona-Pandemie ein Update vor.

Am 20. März 2020 war es dann soweit: Im Rahmen des „März-Pakets“ und erst nach Vorlage der Leitbilder „European Green Deal“ sowie „EU Digitalstrategie“ veröffentlichte die Europäische Kommission ihre Mitteilung „Eine neue Industriestrategie für Europa“ (Quelle Dokument COM (2020) 102 final). Sie enthält wie die Industriestrategie 2030 des BMWK ein klares Bekenntnis zum Standort Europa und unterstreicht die Bedeutung der Industrie für Wohlstand und Wertschöpfung und die zentrale Rolle der Industrie in den anstehenden Transformationsprozessen. Besonderes Augenmerk gilt dabei den kleine und mittlere Unternehmen (KMU), die gezielt gefördert werden sollen. Auch werden die Stärkung des Binnenmarktes, freien Handels und fairen Wettbewerbs betont. Ein wichtiges Anliegen ist zudem die Wahrung der industriellen, technologischen und strategischen Souveränität. Dieses Thema hat angesichts des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine und der Covid-19-Pandemie weiteres Gewicht gewonnen, da Abhängigkeiten von außereuropäischen Lieferanten sichtbar geworden sind.

Mit der Vorlage der Aktualisierung der EU-Industriestrategie im Mai 2021 („Aktualisierung der neuen Industriestrategie von 2020: einen stärkeren Binnenmarkt für die Erholung Europas aufbauen“ (Quelle Dokument COM (2021) 350 final)) ergänzt die Europäische Kommission die industriepolitische Diskussion um das Thema Resilienz. Die Mitteilung beschäftigt sich mit den Themen Beschleunigung der Transformationsprozesse, Binnenmarkt und strategische Abhängigkeiten. Dazu wurden drei Arbeitsdokumente veröffentlicht: Der Bericht zum Binnenmarkt, eine Analyse der strategischen Abhängigkeiten und Kapazitäten der EU sowie ein Spezialbericht für die Stahlbranche.

Eine zentrale Rolle spielt der in der aktualisierten EU-Industriestrategie neu gestaltete Ökosystem-Ansatz von insgesamt 14 industriellen Ökosysteme. Die 14 industriellen Ökosysteme sind: Luftfahrt-, Raumfahrt- und Verteidigungsindustrie, Agrar- und Lebensmittelsektor, Baugewerbe, Kultur- und Kreativwirtschaft, digitale Industrie, Elektronikindustrie, energieintensive Industriezweige, erneuerbare Energien, Gesundheitssektor, Mobilität (Transport- und Automobilindustrie), Lokal- und Sozialwirtschaft, zivile Sicherheit, Einzelhandel, Textilindustrie und Tourismus. Sie entsprechen – statistisch gesehen - nur teilweise dem deutschen Verständnis von „Industrie“, denn im BMWK wird der Begriff im Sinne des verarbeitenden Gewerbes verwendet.

Industrieforum

Ebenfalls wurden in den beiden EU-Industriestrategien die Einrichtung eines Stakeholderforums zur Industriepolitik als neuer, inklusiver und offener Mechanismus angelegt. Diese sogennante „Industrieforum“ setzt sich aus Vertretern der Industrie, darunter KMU, Großunternehmen, Sozialpartner und Wissenschaftler, sowie der Mitgliedstaaten und der EU-Institutionen zusammen. Das Industrieforum soll einen Resonanzboden für Stakeholder bieten und den Stand der europäischen Wettbewerbsfähigkeit - und die Fortschritte bei der industriellen Transformation - aufzeigen, indem es die Ansichten von industriellen Stakeholdern, Behörden, Organisationen der Zivilgesellschaft und Investoren zusammenbringt. Das Forum ist für die Dauer von vier Jahren vorgesehen.

Dem Forum kommt zudem eine zentrale Funktion zu: Es soll die Europäische Kommission bei der systematischen Analyse der 14 industriellen Ökosysteme und bei der Bewertung der Risiken und Bedürfnisse der Industrie im Zuge der - grünen und digitalen - Twin Transition, und der Stärkung ihrer Resilienz zu unterstützen. Für die relevantesten Ökosysteme und zusammen mit anderen relevanten Akteuren wird das Forum die Entwicklung von Übergangspfaden („Transition Pathways“) und die Analyse strategischer Abhängigkeiten unterstützen. Es wird bewährte Praktiken und Lösungen über Ökosysteme hinweg fördern und grenz- und ökosystemübergreifenden Investitionsbedarf und Kooperationsmöglichkeiten identifizieren.

Zur systemischen Analyse bzw. Entwicklung der Übergangspfade für ausgesuchte industrielle Ökosysteme wurde bereits ein Leitfaden in Form eines Blueprints „Übergangspfade“ entwickelt. Die pro Ökosystem zu erstellenden Übergangspfade beleuchten Fragen zu nachhaltiger Wettbewerbsfähigkeit, Forschung und Innovation, Fachkräften und Investitionen.

Grundlagen europäischer Industriepolitik

Der für die Industrie relevante Rechtsrahmen wird schon seit geraumer Zeit zu einem großen Teil auf europäischer Ebene gesetzt.

Rechtsgrundlage für die europäische Industriepolitik ist Artikel 173 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Ziel ist die Stärkung der industriellen Wettbewerbsfähigkeit durch überwiegend horizontale, branchenübergreifend ausgerichtete Maßnahmen. Die Industriepolitik weist einen besonderen Querschnittscharakter auf, da sie in verschiedene Politikbereiche hineinwirkt, wie beispielsweise Handel, Binnenmarkt, Forschung und Innovation, Beschäftigung, Umweltschutz und öffentliche Gesundheit.

Wie oben genannte Zahlen verdeutlichen, ist die Industrie zentraler Akteur in Hinblick auf die Sicherung der wirtschaftlichen Zukunft in Europa. Im Zuge der Bewältigung der Folgen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine und weiterhin auch der COVID-19-Pandemie sowie des Folgeprozesses der aktuellen europäischen Industriestrategie und des Europäischen Green Deal wird europäische Industriepolitik deshalb weiter an Relevanz gewinnen.

Wichtiges Element der EU-Industriepolitik ist die stete Betrachtung der Standort- und Rahmenbedingungen, um so auch auf die Besonderheiten und unterschiedlichen Bedürfnisse einzelner Branchen im Hinblick auf Themen wie Verfügbarkeit von Fachkräften, Innovation oder besserer Schutz geistigen Eigentums einzugehen. Im Rahmen der europäischen Industriestrategie im März 2020 hat die Europäische Kommission mit der Vorstellung der 14 industriellen Ökosysteme ein neues Konzept in die industriepolitische Debatte eingebracht, dass im Gegensatz zur bisher eher linearen Betrachtung von Wertschöpfungsketten, ganze Wertschöpfungsverbünde und ihre vielfältigen Verflechtungen in den Blick nimmt. Ein Aspekt des vorgelegten Konzepts ist die optimierte Ermittlung von Investitionsbedarfen pro industriellem Ökosystem (s.o.) im Rahmen des europäischen post-Corona Wiederaufbauplans. Damit soll erreicht werden, dass die notwendigen Politiken geschärft und verbessert werden, um so auf sämtliche Akteure einer Wertschöpfungskette und deren Merkmale und Bedürfnisse optimal eingehen zu können. Auch das Industrieforum wurde in diesem Zusammenhang als neues, inklusives und offenes Gremium im Februar 2021 eingerichtet.

Im Rahmen der europäischen Industriepolitik sollen außerdem insbesondere kleine und mittlere Unternehmen (KMU) beispielsweise beim Zugang zu wichtigen Ressourcen wie Finanzierung, Energie, Rohstoffen oder Fachkräften gefördert werden. Zudem soll europäischen Unternehmen und ihren Produkten die Integration in internationale Märkte erleichtert werden. Dazu tragen Verhandlungen über verschiedene Freihandelsabkommen mit anderen Ländern bei oder die internationale Harmonisierung von Normen und Standards.

Einen sehr hohen Stellenwert hat die Förderung von Innovationen und Schlüsseltechnologien („key technologies“), da europäische Unternehmen aufgrund höherer Produktionskosten im globalen Wettbewerb tendenziell nur mit qualitativ hochwertigen, innovativen Produkten bestehen können. Insbesondere nimmt die Förderung pan-europäischer Projekte, also gemeinsam von mehreren europäischen Mitgliedsstaaten verfolgte technologische Innovation einen zentralen Stellenwert ein. Als besonders förderungswürdig werden Innovationen in sogenannten Querschnittsbereichen eingestuft, die sektorübergreifend Wachstumsimpulse geben können.

Ein wichtiges europäisches Instrument der Industriepolitik ist daher das der sog. „wichtigen Projekte von gemeinsamem europäischen Interesse“ (IPCEI): Die EU-Mitgliedstaaten haben seit einiger Zeit die Möglichkeit, unter bestimmten Voraussetzungen im Einklang mit dem EU-Beihilfenrecht pan-europäische strategische Investitionsprojekte mit öffentlichen Mitteln zu fördern. BMWK ist bereits in mehreren solchen Projekten - zu Batteriezellförderung, Mikroelektronik, Wasserstofftechnologien und Cloud-Strukturen - erfolgreich involviert, weitere Projekte auch zu anderen strategischen Schlüsseltechnologien sollen zeitnah folgen.

Industriepolitischer Dialog der EU-Mitgliedstaaten

Regelmäßige Abstimmung mit den anderen EU-Mitgliedstaaten ist essentiell für die Stärkung Europas als innovativem und zukunftsgerichteten Industrie- und Wirtschaftsstandort. Diese Abstimmungen geschehen deshalb nicht nur bei offiziellen Sitzungen der EU-Gremien wie dem Wettbewerbsfähigkeitsrat, Energierat, Handelsrat, Kohäsionsrat und dem Rat für Telekommunikation und Digitales, sondern auch in vielen bilateralen Gesprächen der Ministerinnen und Minister, regelmäßigem Austausch auf Arbeitsebene und im Rahmen weiterer Formate.

Wichtig in diesem Zusammenhang ist u.a. die Zusammenkunft der sog. „Friends of Industry“ („Freunde der Industrie“): Zur besseren Abstimmung in zentralen industriepolitischen Fragen - und um einen tatkräftigen und frischen politischen Impuls zu generieren - treffen sich seit 2013 die Industrieministerinnen und - minister verschiedener EU-Mitgliedstaaten in unregelmäßigen Abständenzum Austausch und zur Verabschiedung gemeinsamer Abschlusserklärungen, die jeweils aktuelle Anliegen aufgreift. Das BMWK war im Jahr 2017 Gastgeber des Treffens. Die entsprechende Abschlusserklärung („Berliner Erklärung“) finden sie hier. Zuletzt hatte Österreich in 2019 die Industrieminister eingeladen. Im Anschluss unterzeichneten 14 europäische Industrieminister im Rahmen der 7. Ministerkonferenz der „Friends of Industry“ die „Vienna Declaration“.

Infografiken

Blick in unsere digitale und grüne Zukunft: Wettbewerbsfähigkeit und Resilienz stärken

Blick in unsere digitale und grüne Zukunft: Wettbewerbsfähigkeit und Resilienz stärken

Ein starker industrieller Sektor in Europa wird nur dann Bestand haben, wenn auf EU-Ebene und in den einzelnen Mitgliedstaaten eine kohärente Gesamtstrategie verfolgt wird und politische Entscheidungen in anderen Politikfeldern wie Energie oder Umwelt ebenfalls die Stärkung der industriellen Wettbewerbsfähigkeit im Blick haben und die Industrie durch Vorgaben nicht in ihrer Innovationskraft und Standortverbundenheit belasten.
Industrie und ihre Innovationen sind der Schlüssel für die Bewältigung der großen Herausforderungen unserer Zeit - des digitalen und grünen Wandels, aber insbesondere auch des Wiederaufbaus und der Erholung der europäischen Wirtschaft nach der Corona-Pandemie. Industrie ist unverzichtbar zur Erreichung unserer Klimaziele und zur Sicherung künftigen Wohlstands und unserer Arbeitsplätze. Deshalb liegt uns die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie so besonders am Herzen.

Nach der Vorlage der beiden großen politischen Leitlinien der Europäischen Kommission zum Jahreswechsel 2019 / 2020 (Green Deal und Digital Strategy) hat die Europäische Kommission mit der europäischen Industriestrategie, ihrem Update und der KMU-Strategie in 2020 und 2021 ihre Vision für einen erfolgreichen Weg in die Zukunft der europäischen Industrie komplementiert.

Das BMWK will die Industrie dabei unterstützen, digital, grün und - gerade angesichts von Krisen wie dem Krieg in der Ukraine und der Corona-Pandemie - widerstandsfähiger zu werden, indem wir stetig Rahmenbedingungen optimieren und Schlüsseltechnologien voranbringen, um so Resilienz durch Wettbewerbsfähigkeit zu generieren.

Verwandte Themen